Prof. Dr. Christian Geulen sprach anlässlich der Plenarversammlung des PHFT am 28. November 2019 in Koblenz über die vermeintlich neue Wissensvermittlung via "third Mission". Den gesamten Vortrag lesen Sie hier:

 

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

als ich vor einigen Wochen begann, mir die ersten Notizen für diesen Vortrag zu machen und vor allem über eine kurze und knackige Definition des Begriffs der ‚Third Mission‘ nachzudenken, stieß ich zunächst auf ein Übersetzungsproblem. Kann man im Deutschen tatsächlich sinnvoll davon sprechen, dass der heutigen Universität neben Forschung und Lehre eine dritte „Mission“ zuwächst? Sind Forschung und Lehre also die erste und zweite ‚Mission‘ der Universität?

Im Englischen wie im Deutschen weckt das Wort ‚Mission‘ Assoziationen, die nur wenig mit dem aufklärerischen Selbstverständnis moderner Universitäten zu tun haben. Sie führen entweder in die Religionsgeschichte: von der dritten Missionsreise des Paulus bis zur europäischen Kolonialmission, oder aber in die populärkulturelle Welt der Geheimagenten: von der dritten Mission Sean Connerys gegen Gert Fröbe bis zu ewigen Wiederholungen der ‚Mission Impossible‘.

Doch neben ‚Missionierung‘ einerseits und ‚Auftrag‘ oder ‚Einsatz‘ andererseits hat das Wort ‚mission‘ im Englischen in der Tat noch eine dritte, sehr viel generellere Bedeutung.
Es meint nämlich auch: Sendung, Berufung und ‚Lebenszweck‘. Es ist diese dritte, sehr grundlegende und umfassende Bedeutung, die gemeint war, als der Begriff ‚Third Mission‘ in den frühen 2000er Jahren zur Bezeichnung all dessen eingeführt wurde, was die moderne Universität jenseits von Forschung und Lehre für die Gesellschaft leistet bzw. leisten sollte.
Es geht bei der Third Mission im hier zu diskutierenden Sinne also weder darum, Menschen für den Glauben an die Wissenschaft zu gewinnen, noch um einen Spezialauftrag der Wissenschaft, sondern in der Tat um die Festlegung eines neuen, eines dritten Sinns und Lebenszwecks der Universität.

Die Herkunft dieser Idee reicht bis in die 1980er Jahre zurück, als im Zuge der Umsetzung neo-liberaler Wirtschaftspolitik vor allem in Amerika unter Ronald Reagan und George Bush Sen. eine direkte Ausrichtung wissenschaftlicher Forschung und Lehre an der ökonomischen Lage und an der unternehmerischen Nachfrage gefordert wurde.
Damals noch unter den Bezeichnungen ‚Entrepeneurial University‘ und ‚University Mode 2‘ versuchte man, Strukturen des direkten Austauschs zwischen der universitären Wissenschaft und interessierten Unternehmen aufzubauen, vor allem, um die Kluft zwischen ökonomisch-wissenschaftlicher Theorie und Praxis zu verkleinern.

Die Generalisierung dieser Idee führte schließlich zu neuen Konzepten der Universität an sich, in der dieser unmittelbare Austausch mit der Wirtschaft zu einem Austausch mit der Gesellschaft ausgebaut und als eine dritte Dimension des universitären Leistungsspektrums verstanden wurde. Zunächst unter dem an die Genetik angelehnten Namen ‚Triple Helix‘, der zugleich die Verflechtung von Forschung, Lehre und gesellschaftlichem Engagement verdeutlichen sollte, hat sich dann der Terminus der ‚Third Mission‘ für diese Idee eines unmittelbaren Hineinwirkens der Universität in die Gesellschaft durchgesetzt.

Heute fällt unter den Begriff der ‚Third Mission‘ ein immer breiter werdendes Spektrum von gesellschaftsbezogenen Hochschulaktivitäten. Die Mission beschränkt sich also nicht mehr auf die interessierte Wirtschaft, sondern schließt jede Form ein, in der die Universität direkt, also nicht erst über den Umweg ihrer Forschungsergebnisse und Studienabsolventen, ihre Expertise in die Gesellschaft trägt, sich also auch kulturell, sozial und politisch zu Wort meldet. Damit ist die Third Mission auch – und in jüngster Zeit sogar in zunehmendem Maße – eine Forderung an die Geistes- und Kulturwissenschaften, also an die philosophischen Fakultäten.

Hier aber, in unserem fachlichen Bereich, stößt die Third Mission auf ein Problem:

Denn wie soll ein Wissenschaftsbereich dazu gebracht werden, in die Gesellschaft hineinzuwirken, dessen grundsätzliches Anliegen es ist und von jeher war, in die Gesellschaft hineinzuwirken?

Diese Frage ist keineswegs so eitel wie sie klingt. Ich rede hier nicht von jener in den Geisteswissenschaften hier und da noch anzutreffenden intellektuellen Selbstverliebtheit, die sich politischer wähnt als jede schnöde Politik und Gesellschaftstheorie mit Gesellschaft verwechselt. Vielmehr meine ich einige sehr wissenschaftspraktische und forschungspragmatische Grundstrukturen unseres Fächerbereichs, welche die Forderungen einer Third Mission längst als einen Teil unserer generellen Mission ausweisen. Lassen Sie mich dies – meinem eigenen Fach geschuldet – in Form eines kurzen historischen Rückblicks erläutern.

Als im späten 19. Jahrhundert das Zeitalter des Universalgelehrten zu Ende ging, sich die Wissenschaften professionalisierten und unser heutiger Fächerkanon sich herausbildete, ging dies mit drei weiteren Entwicklungen einher: Zum einen wurden die beiden großen Wissenschaftskulturen, die geisteswissenschaftliche und die naturwissenschaftliche, in ihrer Unterscheidung wie auch in ihrem je eigenen Wesen jetzt systematisch, also wissenschaftstheoretisch reflektiert und auch institutionalisiert. 

 

Zum zweiten wurde diese Unterscheidung aber auch gerade durch jene neuen Fächer brisant, die sich beiden Kulturen zugehörig fühlten: die Ökonomie, die Soziologie oder die Psychologie verstanden sich anfänglich als Naturwissenschaften der Gesellschaft und Kultur und in ihrem Gefolge ging die faktische Trennung von verstehenden und erklärenden Disziplinen zugleich mit dem Bemühen um eine neue Synthese einher. Um 1900 nahm diese Synthesesehnsucht regelrecht obsessive Formen an, während sich zugleich die Disziplinen immer weiter spezialisierten und ausdifferenzierten. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts trat an die Stelle jener, die Gräben nur tiefer machenden Synthetisierungsversuche die Einsicht in den Sinn eines interdisziplinären Pluralismus. 

Zum dritten schließlich entwickelten sich ab dem späten 19. Jahrhundert im Kontext der modernen Vergesellschaftungs- und Demokratisierungsprozesse neue, erweiterte Bildungsansprüche und damit erhöhte sich der Druck auf die Wissenschaften, ihre Ergebnisse auch der breiteren Öffentlichkeit kund zu tun, sie verständlich zu vermitteln und zu popularisieren. Und auch diese Entwicklung vertiefte zunächst den Unterschied zwischen den verstehenden Geistes- und den erklärenden Naturwissenschaften. Denn für die Geisteswissenschaften hieß das zunächst nur: mehr schreiben, mehr vortragen, mehr veröffentlichen, hier und da auch ein wenig didaktische Reduzierung – im Prinzip aber änderte sich an dem, was sie immer schon getan hatten – nämlich forschen, schreiben, vorlesen, publizieren – wenig.


Anders bei den Naturwissenschaften und etwas später auch bei den Technik- und Wirtschaftswissenschaften: Deren Professionalisierung ging nämlich zugleich mit einer massiven Spezialisierung und Mathematisierung ihrer eigentlichen Forschungsarbeit einher. Schon um 1900 waren die meisten chemischen, physikalischen oder auch biologischen Forschungsarbeiten durch eine nur noch von Spezialisten beherrschte Fachsprache geprägt, die einem größeren Publikum – anders als etwa noch bei den Arbeiten Charles Darwins oder Rudolf Virchows – nicht mehr direkt zu vermitteln waren.

Deshalb begannen die Natur- und Technikwissenschaften schon im ausgehenden 19. Jahrhundert ein sich rasch selber professionalisierendes System der Wissenschaftspopularisierung aufzubauen, um den breiter werdenden kommunikativen Abstand zwischen der eigentlichen Forschungspraxis und ihrer gesellschaftlichen Relevanz zu überbrücken. In neu gegründeten Zeitschriften und Buchreihen wurden die komplexen Forschungsergebnisse aus den Instituten und Laboren systematisch zu verstehbaren Wissensformen aufbereitet, visualisiert und inszeniert. In gewisser Weise kann man die heute diskutierte Third Mission als eine weitere Variante dieser expliziten, professionellen und höchst erfolgreichen Vermittlungs- und Übersetzungsarbeit der Natur- und Technikwissenschaften in den vergangenen einhundert Jahren ansehen.

Nun ist es natürlich keine Frage, dass auch die Geisteswissenschaften ihre Fachsprachen und Jargons entwickeln und ebenso, dass sie inzwischen selber erklärende, nomologische und quantifizierende Ansätze in ihre Forschung integriert haben. Das ändert aber nichts daran, dass ihr Kerngeschäft die verstehende Forschung ist – und sie damit auf ihre Verstehbarkeit angewiesen bleiben.

Die Geisteswissenschaften richten die Ergebnisse ihrer Forschung immer schon direkt und unmittelbar an eine lesende Öffentlichkeit.

Sie publizieren ihre Forschung nicht selten in Verlagen, die ebenso Romane oder Kochbücher herausbringen. Und auch wenn manche, vielleicht sogar viele geisteswissenschaftliche Forschungsarbeiten ihr Verstehen nicht gerade einfach machen – sie sind als Forschungsleistung, also ohne vermittelnde Übersetzung, an das allgemein gebildete, lesende Publikum gerichtet. Wie man es auch dreht und wendet, die Forschung wie die Vermittlung folgen in unseren Fächern der gleichen narrativen Grundstruktur.

Wenn also die ‚Third Mission‘ ein vermittelndes Hineinwirken der Geisteswissenschaften in Kultur, Gesellschaft und Politik verlangt, rennt sie damit in gleich doppeltem Sinne offene Türen ein. Denn nicht nur richten sich die Forschungsergebnisse unserer Fächer von vorneherein an Kultur, Gesellschaft und Politik, sondern Kultur, Gesellschaft und Politik sind zudem ja überhaupt das, was wir erforschen, sie sind der Gegenstand unserer Erkenntnisleistungen. In diesem Sinne betreiben die geistes- und kulturwissenschaftlichen Fächer das, was man mit Niklas Luhmann wie auch mit Jürgen Habermas die kritische Selbstbeobachtung der Gesellschaft nennen kann. Ihre Themen wachsen ihnen aus der Gesellschaft zu und sie adressieren ihre Erkenntnisse an diese wieder zurück. Ein großer Teil dessen, was heute unter dem Schlagwort der ‚Third Mission‘ diskutiert wird, ist daher aus der Perspektive der philosophischen Fakultäten „First Mission“ – also das, was unsere Forschung und Lehre überhaupt an- und umtreibt.

Diese Klarstellung schien mir wichtig, weil in der gegenwärtigen bildungs- und universitätspolitischen Diskussion die deutliche Tendenz vorherrscht, die unterschiedliche Fächerkulturen einzuebnen und ausgerechnet im Namen einer gesellschaftlichen Ausweitung von Bildung und Bildungschancen ihre Verengung auf ökonomische und szientifische Denkweisen in Kauf zu nehmen.
Denn liest man die bildungspolitischen Programme, die in den letzten Jahren in steigender Frequenz unter dem Titel der ‚Third Mission‘ veröffentlicht wurden, gewinnt man bisweilen den Eindruck, als ginge es hier nicht nur um eine Ergänzung des universitären Aufgabenspektrums, sondern – dem Ruf nach einer neuen, dem Leben dienenden Wissenschaft am Beginn des 20. Jahrhunderts nicht unähnlich – um eine neue Synthese.

Mit Hilfe der Rhetorik einer stets noch zu verbessernden Verzahnung, Verflechtung und Vernetzung wird hier manchmal einer sehr weitgehenden Homogenisierung der Wissenschaft und ihres gesellschaftlichen Nutzens das Wort geredet.

Und das nicht selten mit Verweis auf die globalen Problemlagen unserer Zeit: als ginge es darum, alle Wissenschaften in den Dienst einer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe zu stellen: möge dies nun die Globalisierung, die Europäisierung, die Digitalisierung oder der Kampf gegen den Klimawandel sein.

Es steht außer Frage, dass es bitter nötig ist, solche großen Aufgaben gemeinsam und jenseits der disziplinären Grenzen anzugehen. Immerhin geht es hier um Probleme, die uns alle angehen, die unsere gemeinsame, geteilte Welt betreffen. Aber, wie es Hannah Arendt einmal treffend ausdrückte: „Eine gemeinsame Welt verschwindet, wenn sie nur noch unter einem Aspekt gesehen wird; sie existiert überhaupt nur in der Vielfalt ihrer Perspektiven.“

So wie echte interdisziplinäre Forschung von der Zusammenfügung unterschiedlicher Blickwinkel und Methoden lebt, und nicht von deren Nivellierung, so kann und sollte auch das direkte Hineinwirken der universitären Wissenschaft in die Gesellschaft von einer zu weitgehenden Standardisierung verschont bleiben. Zum Glück aber finden sich solche Syntheseansprüche bislang auch nur dort, wo theoretische Vordenker der Third Mission Bilder zukünftiger Universitäten als Bildungsakteure entwerfen, die in genau dem Maße völlig in ihrer Außenwirkung aufgehen, in dem sie nach innen differenzlos und homogen geworden sind.
Die Realität sieht anders aus. Wer sich anschaut, was deutsche Universitäten in ihren Selbstdarstellungen als Teil ihrer Third Mission, insbesondere mit Blick auf ihre philosophischen Fakultäten, beschreiben, stößt auf eine erfreuliche Vielfalt: Es reicht von klassischen Vortragsreihen, öffentlichen Workshops und regionalen Kooperationen über direktes Engagement etwa in der Umwelt- oder Flüchtlingspolitik bis zu Veranstaltungsformen, die sich dezidiert an ein nichtwissenschaftliches Publikum wenden.

Bisweilen werden allerdings auch Beispiele aufgeführt, bei denen Max Webers berühmte Unterscheidung zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik zumindest problematisch zu werden droht: Direkte Politikberatung zum Beispiel, ob von einer Partei oder einem politischen Amt nachgefragt, kann die Wissenschaft gerade in unseren Fächern in politisch-moralische oder gar ideologische Zugzwänge bringen, die ihre eigenen Standards der rationalen Wahrheitsfindung gefährden. Das Gleiche gilt für bestimmte Formen der Auftragsforschung – wenn etwa ein Unternehmen ausgewählten Historikern exklusiven Zugang zum Firmenarchiv gewährt, um auf diese Weise eine so abgesicherte wie zugleich abschließende Gesamtdarstellung politisch brisanter Phasen der Unternehmensgeschichte zu erzeugen.

Der Name Max Weber verweist noch einmal auf die bereits angedeutete historische Parallele zwischen der heutigen Forderung nach einer dritten Mission der Universitäten und jener Phase am Beginn des 20. Jahrhunderts, als der Ruf nach angewandter und politisch engagierter Wissenschaft lauter wurde, man die Forschung als Dienst an der Gesellschaft und ihrer rationalen Gestaltung zu verstehen begann und so gut wie jede politische und gesellschaftsreformerische Bewegung sich in den Legitimationshorizont wissenschaftlicher Rationalität zu stellen bemühte. Weber sah hierin Indizien dafür, dass der Rationalisierungsprozess moderner Gesellschaften dialektisch sein eigenes Gegenteil hervorbringe und das erzeuge, was Weber eine „ergrübelte Prophetie“ nannte – einen wissenschaftlich erzeugten und wissenschaftlich gestützten Glauben an außerwissenschaftliche Wert- und Zwecksetzungen.

Sowohl im Namen der wissenschaftlichen Rationalität und ihrer besonderen Weltsicht als auch im Namen der davon losgelösten normativen und politischen Überzeugungen warnte Weber vor einer solchen Vernetzung und Gleichsetzung von wissenschaftlicher Beobachtung und gesellschaftlicher Orientierung. – Und mit Recht. Es dauerte nach seiner Warnung nur ein Jahrzehnt, bis der Historiker und Präsident des deutschen Historikerverbands, Walter Frank, die Geisteswissenschaften unter dem Schlagwort der ‚kämpfenden Wissenschaft‘ komplett auf Gesellschaftsgestaltung umstellte und sie, unter weitgehendem Jubel, auf den Dienst an Führer, Volk und Vaterland verpflichtete.

Von solchen Konsequenzen kann heute freilich keine Rede sein. Das Bedürfnis nach stärkerer Vernetzung von Wissenschaft und Gesellschaft hat sich schon damals auch in anderen Länder gezeigt, ohne in Phantasmen totaler Gesellschaftsordnung zu münden. Es hat sich auch später, etwa in den 60er Jahren wieder gerührt, um mit vollem Recht den Gegenmythos vom unpolitischen Elfenbeinturm zu widerlegen. Und es stammt auch heute aus Orientierungsbedürfnissen, die herzlich wenig mit den damaligen Verhältnissen zu tun haben. Aber: in jedem dieser Fälle und auch heute wiederholt sich das Grundproblem, um das es Weber ging: Natürlich ist wissenschaftliche Beobachtung kein Selbstzweck. Und selbstverständlich dient sie der gesellschaftlichen Orientierung.

Doch ist dieser Sinn und Zweck nur dann erreichbar und nur dann sichtbar, so lange auch die Unterscheidung zwischen Beobachtung und Orientierung sichtbar bleibt. So lange die Wissenschaft also auf Orientierungsbedürfnisse nicht nur reagiert, indem sie Orientierung anbietet, sondern ebenso, indem sie diese Bedürfnisse selber thematisiert und problematisiert, gegenläufige Sichtweisen vorschlägt und Orientierung auch im Medium anfänglicher Desorientierung erzeugt.

Was damit seit Weber auf dem Tisch liegt, ist der stets doppelte Sinn von Wissenschaft: praktischer Nutzen und theoretische Innovation.

Zunächst zum praktischen Nutzen: Gerade den Geisteswissenschaften wird gerne vorgeworfen, sie hätten eigentlich keinen praktischen Nutzen. An dieser Stelle muss zunächst gesagt werden: Wer immer Kinder hat, die er zur Schule schickt, kann diesen Vorwurf nur dann ernst meinen, wenn er Schul-Fächer wie Deutsch, Englisch oder Französisch, Musik, Kunst oder Ethik, Geschichte, Sozialkunde oder Religion für unwichtig und unnütz erklärt. Gerade an der hiesigen Universität widmet sich die philosophische Fakultät in besonderem Maße der Lehrkräftebildung. Welcher größere praktische Nutzen ist eigentlich denkbar? Jahr für Jahr nehmen wir eine neue Generation von Studierenden auf und bringen ihnen die wissenschaftlichen Grundlagen unserer Fächer bei, damit sie die nächste Generation von Schülerinnen und Schülern berufs- und studierfähig machen. Dies ist ein höchst umfassendes System des täglichen Wissenstransfers und des Hineinwirkens der Wissenschaft in die Gesellschaft.

Und entgegen der Selbstwahrnehmung mancher Studierender, die das wissenschaftliche Studium als eine Art notwendiges Übel auf dem Weg zum Lehrerberuf wahrnehmen, funktioniert dieses System nur mit Hilfe der Wissenschaft und ihrer Forschung. Denn ohne Kenntnis darüber, wie Wissen überhaupt sinnvoll und methodisch kontrolliert erzeugt wird, wäre alle schulische Vermittlung nichts als die bloß reproduktive Weitergabe etablierten, traditionellen und sehr bald veralteten Wissens.

Doch beschränkt sich der praktische Nutzen zumal unserer Fächer nicht auf die Lehrkräftebildung. Unsere Absolventen gehen ebenso in den Journalismus, in die Öffentlichkeitsarbeit, in die Politik, in Kultur- und Bildungseinrichtungen.

– Mit anderen Worten: gerade die Geistes- und Kulturwissenschaften bilden zum Wissenstransfer aus, vermitteln die Fähigkeit, Wissen zu vermitteln und es in die Gesellschaft hineinwirken zu lassen – was sprachliche, argumentative und auch stilistisch-künstlerische Kompetenzen voraussetzt, die genuiner Teil unserer Forschungsarbeit und unseres Lehrangebot sind.

Vor genau diesem Hintergrund ist die Koblenzer philosophische Fakultät, also der Fachbereich 2, derzeit dabei, die Kulturen der Vermittlung bzw. die Vermittelbarkeit von Kultur zu einem übergreifenden interdisziplinären Forschungsfeld zu machen und damit eben das zu problematisieren, was die Third Mission feiert und fordert, ohne aber nach den Bedingungen seiner Möglichkeit zu fragen.

Zum dritten schließlich lässt sich der praktische Nutzen der philosophischen Fächer aber auch dort ablesen, wo sich nicht wenige Kolleginnen und Kollegen in politischen und gesellschaftlichen Debatten selber zu Wort melden, interviewt werden, kommentieren oder in anderer Weise öffentlich Stellung beziehen. Die Trennung zwischen Gesinnung und Verantwortung ist hier nicht immer einfach und die Gefahr der Instrumentalisierung immer gegeben. Die Öffentlichkeit verlangt meist nicht wissenschaftlich abwägende Gesamtdarstellungen, sondern pointierte Stellungnahmen. Daher muss hier individuell entschieden werden, wie weit man im Namen der Wissenschaft spricht und wann es um die eigene politische Überzeugung geht. Dennoch halte ich diese laufende Einmischung der Wissenschaft in tagespolitische Debatten für einen nicht zu unterschätzenden Faktor in der gesellschaftlichen Wirkung auch und gerade unserer Fächer. Denn die politisch und gesellschaftlich wichtigen bis brisanten Themen, in denen wir kompetent sind, liegen auf der Straße und kommen täglich in den Nachrichten.
Wenn also die Third Mission – wie es in einigen Darstellungen der Fall ist - auch bedeutet, diesen direkten Output universitärer Wissenschaft zu fördern und zu systematisieren, etwa durch engere Zusammenarbeit mit den Medien, mit regionalen Einrichtungen und den lokalen Öffentlichkeitsarenen, so ist das ganz sicher zu begrüßen. Das gilt vor allem dann, wenn sich diese Kooperation eben nicht auf die oberen Etagen der beteiligten Institutionen beschränkt, sondern etwa auch den Studierenden die Gelegenheit gibt, öffentlich tätig zu werden und die Universität in die Region zu tragen.

Eines aber darf bei der Implementierung einer solchen dritten, öffentlichen Mission der Universität unter keinen Umständen verloren gehen: nämlich das, was ihre beiden ersten Missionen, Forschung und Lehre, insbesondere in den philosophischen Fächern ausmacht und zusammenhält: die Suche nach theoretischer Innovation. – Also die Suche nach Wahrnehmungsweisen, Perspektiven, Deutungen, Analysen und Erklärungen, die es nicht bereits gibt, die nicht notwendig den Interessen und Erwartungen der Adressaten entsprechen und die den behandelten Phänomenen und Problemen neue und bisweilen eben auch ungewohnte oder gar unangenehme Seiten abgewinnen.

Denn was die philosophischen Fächer in ihrer Forschung und ihrer Lehre auszeichnet ist nicht zuletzt die individuelle Hervorbringung neuer Einsichten.

Außer der Akkumulation von Wissen fördern und fordern unsere Fächer immer auch die Herausforderung dieses Wissensstands durch neue Wahrnehmungen und Interpretationen.

Unter Berücksichtigung und Verweis auf den Forschungsstand etwas Neues zum Thema zu sagen, eine eigene Perspektive zu entwickeln oder eine Kritik zu formulieren – das verbindet, rein wissenschaftslogisch, die studentische Hausarbeit mit dem Opus Magnum des renommierten Gelehrten. Dass viele dieser neuen Einsichten auch rasch wieder verworfen werden, dafür sorgen die Selektionsmechanismen des universitären wie außeruniversitären Wissenschaftsbetriebs. Dies ändert aber nichts an der alltäglichen und individuellen Innovationslogik, der unsere Fächer gehorchen. Und man muss hier wohl ehrlich zugestehen, dass sich diese Logik dem Prinzip der Anwendung im Sinne der Applied Science, im Sinne einer praktischen Instrumentalisierung gesicherten Wissens für aktuelle Problemlösungen zu einem gewissen Grad entzieht.

Fragen Sie zehn verschiedenen Geistes- und Kulturwissenschaftler, was der Populismus oder der Klimawandel für die heutige Gesellschaft bedeuten und Sie werden wohl zehn sehr unterschiedliche Antworten bekommen. Eben diese Vielfalt von Positionen wird unseren Fächern immer wieder als ihr mangelnder Nutzen ausgelegt. Doch das kann man auch ganz anders sehen: Denn unter jenen zehn Antworten können zwei oder drei, ggf. sogar sieben oder acht sein, die noch nie gehört wurden; die Zusammenhänge und Perspektiven aufzeigen, die am zu lösenden Problem bislang gar nicht wahrgenommen wurden; oder aber die die Haltlosigkeit von Annahmen zeigen, die bislang als sakrosankt galten. Das gesellschaftsrelevante Potenzial der Geistes- und Kulturwissenschaften und ihrer strukturell eingebauten Multiperspektivität liegt also nicht zuletzt darin, aufzuzeigen, wo etwas anders ist als es scheint, wo es vergessene Dimensionen gibt und was an dem, was offensichtlich zu sein scheint, auch ganz anders sein kann oder sein könnte.

Hinzu kommt, dass die Geisteswissenschaften aufgrund ihrer multiperspektivischen Innovationslogik nicht nur gewohnt, sondern gezwungen sind, auch jenseits der Geltung empirischen Befunde, zu streiten, zu argumentieren und dabei ihre Thesen und Erkenntnisse gerade im Streit und in der Argumentation weiter zu entwickeln. Wer also, wenn nicht die Vertreterinnen und Absolventen der philosophischen Fächer, sind besser vorbereitet, in politischen und gesellschaftlichen Debatten und Diskussionen mitzumischen?

Wenn also die Third Mission allein nach dem Modell der Applied Science gedacht wird, als ein Zur-Verfügung-Stellen gesicherten Wissens für die Lösung gesellschaftlicher Probleme, dann werden unsere Fächer echte Schwierigkeiten haben, diesen Anspruch zu erfüllen, ohne sich bis zur Unkenntlichkeit zu verbiegen. Sollte Third Mission aber auch bedeuten, die Gesellschaft mit Wissen nicht nur zu beliefern, sondern auch zu konfrontieren, ungewohnte Perspektiven einzubringen und am politischen oder gesellschaftlichen Streit teilzunehmen, so glaube ich, dass gerade unsere Fächer kaum einer besonderen Aufforderung bedürfen, in diese Mission zu investieren. Denn in diesem Sinne wäre sie eigentlich nur eine Art Erweiterung unseres Aktionsradius.

In der absehbaren Zukunft wird es also vor allem wichtig sein, wer mit welchen Interessen darüber entscheidet, was genau Third Mission meinen und bedeuten soll.

Ganz im Sinne des hier Gesagten hat schon vor zwei Jahren die Präsidentin der Goethe-Universität Frankfurt, Birgitta Wolff, selbst Ökonomin, in einem Interview davor gewarnt, die Third Mission auf unmittelbar anwendbares Natur- und Technikwissen zu beschränken und dabei das Querdenken der Geisteswissenschaften nur als störend für Fortschritt und Innovation wahrzunehmen. Demgegenüber rief sie dazu auf, das Potenzial der philosophischen Fächer in dem, was sie schon längst von sich aus beforschen und in dem, was sie an besonderer Innovationslogik mitbringen, für politische und gesellschaftliche Diskussionen und Entscheidungsprozesse nutzbar zu machen.

Ich glaube, dies ist eine generalisierbare Einsicht: Statt die zukünftigen Aufgaben oder überhaupt die Zukunft der Wissenschaften nach den immer gleichen Modellen einer längst selber professionalisierten Wissenschaftskommunikation zu entwerfen und dann zu verordnen, hätte eine neue Förderung der gesellschaftlichen Wirkung akademisch erzeugten Wissens auch bei dem zu beginnen, was die Fakultäten und Fächer von sich aus als ihre gesellschaftliche Relevanz verstehen, formulieren und auch praktisch herstellen.

Am Ende jenes Interviews hat Frau Wolff dann noch einen Aspekt betont, den ich hier nicht ausgeführt habe, der aber nicht ganz unerwähnt bleiben soll: Man kann von einer Institution wie der modernen Universität und besonders von den philosophischen Fächern, die mit ihrer Lehre seit Jahren überlastet sind, nicht verlangen, einen kompletten dritten Handlungsraum aufzubauen und eine zusätzliche Mission zu erfüllen, wenn dies nicht umgekehrt auch der Universität und den beteiligten Fakultäten zu Gute kommt. Third Mission kann nur als Wechselbeziehung gedacht werden. Wenn nutzbares innovatives Wissen abgerufen wird, muss die gesellschaftliche Relevanz dieses Vorgangs auch wieder in die Förderung und Generierung zukünftiger Innovationen investiert werden. Das nicht zu tun, wäre ungefähr so – um einen völlig willkürlichen Vergleich zu bemühen – als wollte man ohne größere Investitionen aus einer Universität zwei machen. 

Ich jedenfalls möchte mich abschließend dem Plädoyer von Frau Wolff in jeder Hinsicht anschließen und kann nur hoffen, dass es bei denen gehört wird, die in nächster Zeit darüber entscheiden, wie es mit der Third Mission auch und gerade mit Blick auf die philosophischen Fächer, weitergeht. Um das aber sicher zu stellen, müssen auch die geisteswissenschaftlichen Fächer selber explizit mitreden, sich erklären und sich einmischen, bevor sie – wie in der Bologna-Reform – mit Strukturvorgaben konfrontiert werden, die sie dann kaum mehr mitgestalten können. Eben dies, der Aufruf an uns philosophische Fächer, sich im Namen unserer Potenziale einzubringen, war das wesentliche Anliegen meiner Ausführungen. Sollte dieser Aufruf gehört werden, dann kann ich nur sagen „Mission accomplished“ – Danke schön! 

Der Autor

Prof. Dr. Christian Geulen, geb. 1959, lehrt an der Universität Koblenz- Landau Neuere/ Neueste Geschichte und deren Didaktik.
Von ihm erschien u.a 2007 bei Beck das Werk: Geschichte des Rassismus

Für den Download der pdf-Datei klicken Sie bitte hier: Forschung-Lehre-und-Third-Mission.pdf

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