Bernadette Malinowski und Michael Sommer argumentieren: "Wer ein demokratisches Europa will, muss die Mehrsprachigkeit – gerade auch die wissenschaftliche – mit allen Mitteln fördern. Die Regierungen von Bund und Ländern täten deshalb gut daran, robust für das Deutsche als Wissenschaftssprache einzustehen – und dies nicht, um ins Nationale zurückzufallen, sondern um einen Beitrag zur Kontinuität von kultureller Identität und Differenz zu leisten – und damit zur Ermöglichung von Innovation, die im europäischen, letztlich weltweiten Zusammenspiel der Wissenschaftler allen zugute kommt."

 

Für eine europäische Universität der Mehrsprachigkeit

Wer als Geisteswissenschaftler häufig jenseits des Ärmelkanals zu tun hat, kennt diese Reaktion: Kollegen fragen mit hochgezogener Braue, ob wir in Deutschland noch ganz bei Verstand seien. Wir hätten, heißt es dann meist, ein hochkompetitives Wissenschaftssystem auf dem Altar der Europäisierung geopfert und seien nun drauf und dran, das Deutsche aus den Hörsälen zu verbannen. Wie sollten sie da noch, ärgern sich die Kollegen, ihren wissenschaftlichen Nachwuchs davon überzeugen, die Sprache Goethes und Schillers zu lernen.

Dafür, das Totenglöckchen für die Wissenschaftssprache Deutsch zu läuten, ist es zu früh. Lediglich 1519 der 20.053 Studiengänge in Deutschland werden in englischer Sprache gelehrt, und noch immer publizieren deutsche Wissenschaftler überwiegend in ihrer Muttersprache, jedenfalls in den meisten Geisteswissenschaften. Doch kommen auch aus Sicht der Humaniora die Einschläge näher:

Universitäten verlangen von Neuberufenen, dass sie bereit und in der Lage sind, auf Englisch zu lehren;

in Zielvereinbarungen wird festgeschrieben, dass soundsoviele Publikationen in internationalen – selbstverständlich anglophonen – Fachorganen zu publizieren seien; Drittmittelanträge sind auf Englisch vorzulegen; internationale Wissenschaftler arbeiten an deutschen Hochschulen, ohne selbst Grundkenntnisse der Landessprache zu erwerben. Da wirkt der Vorstoß des bayerischen Wissenschaftsministers Bernd Sibler, die Hochschulen seines Bundeslandes zu ermächtigen, nach Ermessen rein englischsprachige Studiengänge einzurichten, wie ein Weckruf auch für die Philosophischen Fakultäten: Wie lange noch wird das Deutsche als Wissenschaftssprache zu halten sein?

Gewiss betrifft Siblers Brief an die Hochschulleitungen zunächst die Ingenieur-, Natur- und Lebens-, aber auch etwa viele Sozialwissenschaften. Hier zuerst drohen die Restbestände des Deutschen aus den Hörsälen zu verschwinden, dürften sich deutsche Fakultäten bald soweit internationalisiert haben, dass allenfalls das Mensaessen ahnen lässt, wo man sich befindet. Doch sollten sich Geisteswissenschaftler nicht zu sicher fühlen: Hochschulleitungen sind allenthalben mit Enthusiasmus auf den Internationalisierungszug aufgesprungen, und in diesem Zug spricht man Englisch.

Längst nämlich ist ein Verständnis von Internationalisierung auch in den Philosophischen Fakultäten angekommen, das der Muttersprache das Wasser abgräbt. Bestimmte Fächer, wie die Linguistik, sind den Ingenieur- und Naturwissenschaften bereits so weit gefolgt, dass hier kaum jemand mehr auf Deutsch publiziert.

Zugleich wächst der Druck, ein englischsprachiges Lehrangebot zu schaffen, weil angeblich nur so der Kampf um die international hellsten Köpfe gewonnen werden kann.

Der Verzicht auf die Lehrsprache Deutsch wird selbst unter Vertretern der hermeneutischen Wissenschaften schon als Standortvorteil gepriesen: Wenn man nicht Angebote auf Englisch vorhalte, heißt es, seien Austauschprogramme mit dem europäischen Ausland bloße Einbahnstraßen.

Das gilt auch umgekehrt: Attraktiv für Studenten sind fast nur Erasmus-Studienplätze im englischsprachigen Ausland, allenfalls noch an Universitäten, die über englischsprachige Studienprogramme verfügen. Fatalerweise hat die Modularisierung der Studiengänge nicht die Mobilität der Studenten gefördert, sondern sie eher sesshafter gemacht. Ein neues Land über das Studium dort, selbstverständlich in der Landessprache, kennenzulernen, erscheint ihnen unter dem Druck des dauernden Geprüftwerdens als unkalkulierbares Risiko. Anstatt also die Vielfalt der europäischen Wissenschaftssprachen als Chance zu begreifen, streben auch die Geisteswissenschaften einer trostlosen sprachlichen Monokultur zu, in der deutsche Wissenschaftsstandorte gegenüber ihren angelsächsischen Konkurrenten hoffnungslos ins Hintertreffen zu geraten drohen.

Natürlich ist Wissenschaft per se eine internationale Unternehmung; das war sie auch und vor allem in der Zeit, als wissenschaftliche Mehrsprachigkeit selbstverständlich gewesen ist. Wie die Sprachwissenschaftlerin Roswitha Reinbothe gezeigt hat, ist die heutige Dominanz des Englischen auch eine Konsequenz sehr handfester sprachpolitischer Entscheidungen nach dem Ersten Weltkrieg und später. Internationalität ist jedoch ein pluralistisches Konzept, das kaum mit der Anbiederung an eine einzige Wissenschaftssprachkultur kompatibel sein dürfte.

Die Gleichsetzung von Internationalität mit Anglophonie konterkariert den europäischen Gedanken, indem sie die Wissenschaft aus der faktischen kulturellen und sprachlichen Vielfalt Europas herauslöst.

Gern wird übersehen, dass Wissens- und Wissenschaftstransfer in die europäischen Gesellschaften nur gelingen kann, solange die europäischen Sprachen auch als Wissenschaftssprachen fungibel sind. Die Bürger der europäischen Länder, die mit ihren Steuergeldern Wissenschaft ermöglichen, dürfen beanspruchen, an Wissenschaft in ihrer jeweiligen sprachlichen Ausprägung auch partizipieren zu können. Vor allem fördert der Erhalt der europäischen Wissenschaftssprachen den sprachlichen Ausbau der Gemeinsprachen, wie umgekehrt Wissenschaft von den sprachlichen Ressourcen zehrt, die in den Gemeinsprachen vorgehalten werden. Dies wäre diejenige Pluralität, die eine Begegnung mit dem Anderen und Fremden ermöglicht, die, wie der Philosoph Bernhard Waldenfels sagt, Grundbedingung für jegliche Innovation ist. Anders formuliert: Wer Differenz nivelliert, versündigt sich am wissenschaftlichen Fortschritt. Eine plural verstandene Internationalisierung würde die europäischen Kulturen in ihrem Bestand sichern, in ihrer Weiterentwicklung fördern und in ihrem Austausch befruchten. Es kann nicht sein, dass Funktionseliten, die sich bereits als anglophon verstehen, ohne es, wie vielfach hörbar, tatsächlich zu sein, über das Einfallstor sprachlicher Monokultur ganz Europa mit der Programmatik derjenigen Länder überformen möchten, die dem europäischen Gedanken erklärtermaßen am fernsten stehen.

In der Lehre ist täglich zu beobachten, wie schwer Studierenden wissenschaftliches Denken schon in der Muttersprache fällt. Noch viel schlechter ist es, wie die Linguisten Christian Fandrych und Betina Sedlaczek gezeigt haben, um die sprachlichen Voraussetzungen von Studierenden wie Dozenten in den anglophonen, sogenannten internationalen Masterstudiengängen bestellt.

Wissenschaft und Innovation sind, wo die sprachlichen Grundlagen fehlen, kaum möglich.

Es ist ein Kennzeichen deutscher Hochschullehre, dass dort nicht einfach irgendwelche Fakten vermittelt werden, sondern es ihr in bester Humboldtscher Tradition darum zu tun ist, an wissenschaftliches Denken heranzuführen. Dies geschieht diskursiv – und das nicht nur in den Geisteswissenschaften. Diskursivität bedarf herausragender Sprach- und damit Verstehens-, Differenzierungs- und Argumentationskompetenz, nicht nur im Fachlichen, sondern auch im Gemeinsprachlichen. Die Vorstellung, Wissenschaft in einem reduzierten Idiom, einer lingua franca, betreiben zu können, ist wissenschaftswidrig, weil so der Reichtum an diskursiven, perspektivischen und denkerischen Zugängen zu wissenschaftlichen Gegenständen und Fragestellungen inakzeptabel beschnitten würde. Während viele, die Wissenschaft auf Englisch betreiben, noch den Luxus hatten, sich ihre Gegenstände auf Deutsch aneignen zu können, würde die Anglophonisierung grundständiger Lehre den wissenschaftlichen Nachwuchs um wesentliche Erkenntnisvoraussetzungen bringen.

Wer nach dem Abitur akademische Bildung nur noch auf Englisch erfährt, dem dürfte sich das Universum der kulturellen, philosophischen und wissenschaftlichen Traditionen des eigenen Landes kaum noch erschließen. So kann sich innerhalb weniger Jahrzehnte eine Kulturnation dem Vergessen überantworten, das einer wissenschaftlichen Befassung mit den eigenen Traditionen dann auch nicht mehr bedarf.

Die gegenwärtig überall in Europa zu beobachtenden Renationalisierungstendenzen dürften sich nicht zuletzt aus der Furcht vor solchen Entwicklungen speisen. Bezeichnenderweise hat ausgerechnet die AfD das Thema Deutsch als Wissenschaftssprache für sich entdeckt, und dies sicher nicht in einer Weise, die dem europäischen Gedanken verpflichtet ist. Wer ein demokratisches Europa will, muss die Mehrsprachigkeit – gerade auch die wissenschaftliche – mit allen Mitteln fördern. Die Regierungen von Bund und Ländern täten deshalb gut daran, robust für das Deutsche als Wissenschaftssprache einzustehen – und dies nicht, um ins Nationale zurückzufallen, sondern um einen Beitrag zur Kontinuität von kultureller Identität und Differenz zu leisten – und damit zur Ermöglichung von Innovation, die im europäischen, letztlich weltweiten Zusammenspiel der Wissenschaftler allen zugute kommt.

 

 

 

 

 

 

Prof. Dr. Bernadette Malinowski lehrt Neuere Deutsche und Vergleichende Literaturwissenschaft in Chemnitz; Prof. Dr. Michael Sommer lehrt Alte Geschichte in Oldenburg. Sie sind Vorsitzender bzw. Stellvertretende Vorsitzende des Philosophischen Fakultätentages.

 

 

 

 

 

 

Für den Download der pdf-Datei klicken Sie bitte hier: Denglisch als Wissenschaftssprache?

Dieser Artikel erschien am 14.09.2019 in der FAZ und kann unter diesem Link dort gelesen werden: Denglisch-ist-ungeeignet

 

 

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